Tschechisch-Deutsche Beziehungen
PENCAST Februar 2023
Was gibt es Neues bei PEN
Olga Walló: Versuchen wir, nach positiven Veränderungen zu suchen
In den vergangenen Ausgaben haben wir unsere Träume und Pläne angedeutet, die mit Ihrer Hilfe, liebe PEN-Mitglieder, in Projekte umge-setzt werden könnten: Wir möchten an der Erneuerung des literarischen Prags als Kreuzungspunkt der Kulturen mitwirken. Die deutsch-tschechische Annäherung, die ganz praktische gemeinsame Praxis des Kennenlernens, spielt dabei eine unersetzliche Rolle.
Auf unsere Klagen darüber, wie intellektuell verarmt wir seit dem Zweiten Weltkrieg sind, als wir die natürliche Zweisprachigkeit verloren, die die Be-wohner des tschechischen Beckens tausend Jahre lang begleitet hat, haben wir eine interessante Antwort erhalten. Das Wort hat unser PEN-Mitglied, die deutsche Politikwissenschaftlerin Dr. Eugenie Trützschler von Falkenstein (geboren 1950 in Prag, schreibt Bü-cher, publiziert auf Tschechisch unter ihrem Mädchennamen Fűgnerová):
Eugenie Trützschler: Ich möchte Ihnen mitteilen, dass ich den deutschen Bot-schafter in der Tschechischen Republik, Herrn Künne, persönlich über den Podcast des tschechischen Zentrums des Internationalen PEN-Clubs am 12. Januar 2023 informiert habe, der die Initiative, den Podcast zweisprachig zu veröffentlichen, begrüßte. Ich habe mit dem Sekretär des deutschen PEN-Clubs, Herrn Michael Landgraf, vereinbart, dass der tschechische Podcast auf der Website des deutschen PEN-Clubs präsentiert wird. Das Gleiche habe ich auch mit der Sekretärin des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland, Frau Professor Helga Druxes in den USA, vereinbart.
Olga Wallo: Wir finden das großartig und können Ihnen nur für dieses Ange-bot zur Zusammenarbeit danken. In jeder Ausgabe werden wir versuchen, ein Thema oder einen Bericht über ein Ereignis zu veröffentlichen, das, wie man so schön sagt, "für beide Seiten von Interesse sein kann". Es gibt viele Möglichkeiten; das für die Einleitung gewählte Thema bot sich an.
Olga Walló: Im März 2022 fand in Prag eine internationale Konferenz zu den deutsch-tschechisch-jüdischen Beziehungen 1938-2020 statt, die von Dr. Eugenie Trützschler von Falkenstein initiiert wurde. Die Konferenz fand in der Vertretung des Freistaates Sachsen in Prag statt, der sich gemeinsam mit dem Deutsch-tschechischen Zukunftsfonds an der Finanzierung der Tagung beteiligt hat. An ihrer Umsetzung nahm auch das tschechische Zentrum des internationalen PEN teil. Die Beiträge können auf https:/youtu.be/oS1RvbNgnHo im Originalton abgerufen werden. Da für Studium und näheres Befassen mit den Beiträgen die Schriftform geeignet ist, haben wir auch den Tschechisch-Deutschen Zukunftsfonds, die Deutsche Botschaft in Prag und den Freistaat Sachsen gebeten, die Veröffentlichung des Tagungsbandes zu unterstützen. Im März werden wir erfahren, wie unsere Bewerbung ausgefallen ist. Hoffentlich wird es gut gehen. Der Freistaat Sachsen hat bereits eine Kofinanzierung zugesagt. Während der Tagung gab eine Reihe von interessanten Beiträgen, auf die es sich lohnt, zurückzukommen. Auf der Konferenz wurde auch ein Kurzfilm gezeigt: „Nenastoupili- Nicht eingestiegen“. Er schildert das Schicksal einer jüdischen Familie aus Prag, die sich dem Schicksal, das sie wäh-rend des Zweiten Weltkriegs unweigerlich erwartete, einfach nicht fügen wollte. Der Film hat uns so sehr fasziniert, dass wir die Hauptfigur und Erzäh-lerin, Frau Eva Benešová, besucht haben.
Olga Walló: Ich sitze in einem angenehmen Raum, die Gastgeberin schaut freundlich, bietet uns Kuchen an, ist ebenso einfach wie nobel und hat einen unbestreitbaren persönlichen Charme. Wenn sie erzählt, klingt es wie die Zu-sammenfassung einer spannenden Serie für Netflix.
Eva Benešová: Papa kam uns im Ghetto besuchen, und wir schliefen alle in einem dieser breiten Betten. Sie flüsterten, und dann am Morgen - ich an der Hand meines Bruders, mein jüngerer Bruder hielt die Hand meines Vaters - ich konnte spüren, wie diese Hand zitterte. Vater hatte uns aus dem Ghetto geholt. Wie er es geschafft hat, das weiß ich nicht. Danach hat er nie wieder darüber gesprochen. Und Mami wusste es auch nicht. Aber wir sind in dieser Nacht losgefahren - Papa hatte es
im Voraus vorbereitet - wir sind über die Grenze in die Slowakei gefahren. Er hatte einen Schmuggler bezahlt. Wir hatten noch etwas Geld, und wir bekamen etwas Geld von meinem Großvater, er war Bezirksarzt, er hatte eine wirtschaftliche Ausnahmegenehmigung, also konnte er noch Juden behandeln. Und wir machten bei ihm Zwischenhalt - während der Flucht aus dem Ghetto - und ich hatte Fieber. Und daran erinnere ich mich bis heute, denn ich hatte schreckliche Visionen, solche Fieberträume. Und so gab mir mein Großvater eine Art Injektion, nur hatte ich eine umgekehrte, paradoxe Reaktion, so dass i
ch - anstatt ruhig zu sein und zu schlafen, damit sie ruhig sein konnten - damit sie über die Grenze kommen konnten, begann ich - das war im Jahr 1943, ich war drei Jahre alt - schrecklich zu toben, und mein Bruder Peter fing auch an, ganz glücklich, nach all der Anspannung, so tobten wir. Und auf dem Weg dorthin sagte er seine ersten Worte. Er war ein bisschen spät dran, aber das sind alle Jungs... Also sagte er VONAT! Weil er in der Ferne einen Zug hörte, und das ist ungarisch für Zug. Aber uns wurde befohlen - ich sage das vielleicht etwas wirr, aber - als wir aus Prag kamen, als wir von Prag nach Lucenec kamen, durften wir kein Tschechisch sprechen. „Halte den Mund, sonst bringen sie uns um!", das war so ein - das habe ich noch im Kopf. Und als wir von Ungarn in die Slowakei geflohen sind, haben sie mir wieder gesagt: "Halt die Klappe, sonst bringen sie uns um!" - und wir durften kein Ungarisch sprechen. Und dann, ich weiß nicht, in den paar Wo-chen, die wir dort waren, konnte ich Ungarisch verstehen und sprechen. Und als wir wieder wegliefen, sagte mein Bruder laut: VONAT! - als er den Zug hörte. Und das war sein erstes Wort. Und Sie wissen ja, wie Mütter das erste Wort ihres Kindes begrüßen. Aber seine Mutter stürzte sich auf ihn, knebelte ihn - und das ist seine früheste Erinnerung. Bis heute, jetzt, wo Mami nicht mehr da ist.
Olga Walló: Sie hat viel durchgemacht und alles überlebt, und das nicht nur, weil sie Glück hatte. Es scheint, dass sie auch wunderbare, mutige, lustige, kluge und unbeugsame Eltern hatte. Viele Menschen interessieren sich für Berühmtheiten, ich zum Beispiel bin ganz aus dem Häuschen, wenn ich jemanden finde, den ich bewundern kann. Weil Eva Benešová ganz normal ist, aber einfach besser als andere, stellt sie eigentlich eine Ausnahme dar, eine Abweichung! Aber eine positive Abweichung. Über letztere gibt es unzählige Krimiserien.
Aber auch Frau Benešová ist zu einer Filmheldin geworden. Das haben Kin-der bewirkt. Sie ging in die Schulen und erzählte ihnen ihre Geschichte. Und es muss bei den Kindern hängen geblieben sein, denn sie haben Bilder dazu gemalt. Diese Bilder wurden zu einem Comic mit dem Titel „Nenastoupili - Nicht eingestiegen" verarbeitet, der nicht nur bei uns einen tiefen Eindruck hinterlassen hat. Professor Martin Muránsky aus der Slowakei sagt dazu Folgendes:
Martin Muránsky: Der Film „Nenastoupili.- Nicht eingestiegen" bedeutet mir sehr viel. Die wahre Entdeckung nicht nur die außergewöhnlichen Lebensgeschichte von Frau Eva Benešová, damals ein kleines Mädchen namens Eva. Es ist die Unmittelbarkeit des kindlichen Blickwinkels, die dieses Werk außergewöhnlich macht, da die Erinnerung eines Kindes in diesem Film das Unmögliche sichtbar machen kann: die Abgründe des Nazi-Grauens und gleichzeitig die stärkere Kraft des Lebenswillens auch ohne ein direktes Bild der grausamen, leider in der Erwachsenenwelt mehrheitlichen Realität der Massenmordmaschinerie und des Grauens ihrer toten Opfer zu zeigen. Ich erinnere Sie daran, dass die heutige Glaubwürdigkeit des absoluten Abnickens -der Hingabe- an das Leben im Spiegel in seiner existenziell und historisch beispiellosen Verkommenheit ohne die zweite Abnormität, den grundlegenden künstlerischen Mut und die Entscheidung der Regisseurin Marta Vančurova nicht möglich gewesen wäre. Das heißt, die künstlerische Bearbeitung und Animation der Geschichte, die durch die emotionalen Augen des heutigen Publikums, an der sich mehr als 80 Kinder der Schule für Kunst in Benešov unter der Leitung von Mirka Bažantová, beteiligt haben, erzählt wird.
Die dritte Besonderheit dieses Werks ist seine erstaunliche Fähigkeit, die große Geschichte des nationalsozialistischen Völkermords durch die kleine Geografie der Orte des Widerstands zu vermitteln: Die von den Nazis versiegelte Wohnung in Prag (1942), das Ghetto im damals ungarischen Lučenec (1943), der Zug nach Kremnica in der Slowakei oder die Schäferhütte oberhalb von Tisovec während des Slowakischen Nationalaufstandes (1944) oder das tschechisch-brasilianische Dorf Mládzov (1945) - auch hier wieder kleine Geschichten der wenigen starken Menschen, ohne die es die Familie Benešov nicht überlebt hätten. Solche Geschichten machen sofort einen menschlichen - von Menschen gelebten - Sinn.
Der Animationsfilm "Nicht eingestiegen" ist die Geschichte einer Prager Familie jüdischer Abstammung, die den Zweiten Weltkrieg überlebt, weil sie sich dem Befehl, eines Transportes widersetzte. Der Film kann in der tschechischen Fassung unter
https://www.youtube.com/watch?v=vd3mCGcNEYs
Eugenie Trützschler sprach mit de Tochter dieser Familie und Autorin des Drehbuchs, Eva Benešová (links im Bild).